500 Jahre Reformation. In den letzten Tagen wurde viel dazu gesagt, geschrieben, darüber diskutiert. Mir fiel dazu folgender Satz ein: Er stammt aus dem Buch „Gemeinschaft“ von Jean Vanier, Gründer von der „Arche“. Keine Ahnung, warum. Kommt auch aus einem anderen Kontext. Und doch, da steht er: „Aus menschlichen Freundschaften kann aber sehr schnell ein Klub der Mittelmäßigen entstehen.“ Du bist gut, ich bin gut. Hier passiert null Wachstum. Verblendung in Bezug auf Fehler, mehr oder weniger bewusste Vertuschung von Unterschieden, man lebt an der Oberfläche. „Die Freundschaft ist dann keine Ermutigung mehr zum Wachstum, den Brüdern und Schwestern besser zu dienen, mit den empfangenen Gaben treuer hauszuhalten, intensiver auf den Geist zu hören, mit mehr Vertrauen durch die Wüste in das gelobte Land der inneren Befreiung zu ziehen.“ (ibid).
 
Was hat das, bitte, mit der Reformation zu tun? Na gut. Mit der Reformation selbst erst mal gar nichts. Nur. Ganz wohl in der Haut fühle ich mich nicht, wenn ich höre und lese, wie darüber heute immer wieder geredet wird. Besonders in diesen Breitengraden. Vanier meinte in seinem Buch „Gemeinschaft“: „Die beiden großen Gefahren einer Gemeinschaft sind ‚Freunde‘ und ‚Feinde‘. Ja ok. Das mit den Feinden versteht man relativ schnell. Sich gegenseitig den Schädel einzuhauen tut dem Zusammensein nicht besonders gut. Aber jetzt ehrlich: Wir befinden uns nicht im Nordirland der 1970er-Jahre. Ich finde es ganz okay, dass wir Katholiken und Protestanten uns nicht gegenseitig in die Luft jagen. Aber gibt es wirklich noch Leute hierzulande, die das ernsthaft in Betracht ziehen würden? Sollte ich vielleicht hier im 3. Bezirk in Wien einen Kreuzzug der Toleranz gegenüber meinen bedrohten getrennten Brüdern verkünden? Natürlich sollten wir die Vergangenheit nicht vergessen. Aber man kann es auch übertreiben. Ich glaube, der zweite Teil des Satzes von Vanier ist derzeit viel gewichtiger. Nicht nur ‚die Feinde‘ sind eine Gefahr. Oberflächliche Freundschaft ist es auch. Mit allem Respekt für die Suche nach dem Gemeinsamen gehört dazu auch das Verständnis für das, was uns trennt. Das nicht mehr ins Gespräch zu bringen, nur so zu tun, als wäre das ja eh nicht so wichtig, finde ich fahrlässig, um nicht mit Vanier von einer „großen Gefahr“ zu reden.

Aber es geht um mehr. Jeder, der mich kennt, weiß, dass man nicht sehr lange mit mir reden kann, ohne dass ein paar Namen von zeitgenössischen protestantischen Geschwistern fallen, die ich sehr respektiere und wertschätze … Rick Warren, Andy Stanley, Bill Hybels, Craig Groeschel – um ein paar zu nennen. Wir können von solchen Leuten viel lernen. Aber ich kann doch nicht zum Beispiel im gleichen Atemzug als Katholik behaupten, „die Eucharistie ist Quelle und Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens“ (LG 11) und gleichzeitig verkündigen, dass Eucharistie nicht so wichtig sei. Ich kann nicht sagen, okay Leute, fokussieren wir uns einfach auf Christus, wenn ich als Katholik meine, dass das ohne Kirche gar nicht geht. Ich kann nicht als Katholik behaupten, „Die Schrift ist Fundament und Säule der Wahrheit“, wenn ich eigentlich davon überzeugt bin, dass dies eigentlich „die Kirche des lebendigen Gottes (selbst) ist, Säule und Fundament der Wahrheit“. (1 Tim 3,15) Und zu behaupten, das seien nur intellektuelle Spielereien, die keine praktischen Konsequenzen haben, ist einfach nur Unsinn. Nichts hat konkretere Konsequenzen als eine Idee. Wenn ich zum Beispiel in der Schrift das Fundament und die Säule der Wahrheit sehe, dann werde ich wahrscheinlich 90 Prozent meiner Zeit dem Studium der Hl. Schrift widmen. Wenn es aber die Kirche ist, dann werde ich wenigstens auch einige Zeit dafür widmen, um den Katechismus zu lesen und zu sehen, wie die Kirche diese Schrift erst überhaupt auslegt. Ich fürchte, wir leiden ein wenig unter intellektueller Müdigkeit. Alles verständlich. Das Ringen nach der Wahrheit war schon immer schwierig. Aber nur weil ein Unterfangen schwierig ist, heißt es nicht, dass wir uns dem nicht widmen sollten. Abnehmen ist schwierig, ein Instrument zu lernen ist schwierig, eine tiefe Liebe in einer Beziehung zu leben ist eine Herausforderung – und doch lohnt es sich. Wieviel mehr hier?
 
In einer Welt, wo jeglicher Wahrheitsanspruch als intolerant dargestellt wird – nach dem Motto:  Wehe, du glaubst noch an eine Wahrheit – und noch viel weniger, wenn diese Wahrheit von sich behauptet, sie sei noch Weg und Leben … darf uns Christen das Ringen um die Wahrheit nicht gleichgültig sein. Besonders dann, wenn Christus uns den Auftrag gibt, die Wahrheit, die er ist, in der Welt zu verkünden. Wahrscheinlich deswegen gab und gibt es Märtyrer. Deswegen würde wahrscheinlich auch Edith Stein behaupten, dass ihre Suche nach der Wahrheit ein einziges Gebet gewesen sei. Und zufrieden mit anderen Blinden gemeinsam je einen Teil des Elefanten zu untersuchen, hilft auch nicht. Jesus gibt uns nicht diese Wahl. Entweder nimmst du ihn ganz an – oder du hast ihn noch nicht wirklich angenommen. Natürlich geht es da um ein „Immer-Tiefer“, aber das ist ja genau der Punkt. Die Grundintuition ist ja gut. Wir sollen eins sein. Aber nicht auf Kosten der Wahrheit. Sondern auf Grund der Wahrheit. Und vielleicht wäre dieses gemeinsame Zeugnis des Ringens um Wahrheit, die Liebe ist und Jesus Christus heißt, einer der wichtigsten Aufträge aller Christen, gerade in dieser Stunde.
Titelbild: pixabay & WordSwag.