Sehnsucht. Ein inniges, schmerzliches Verlangen nach jemandem, etwas [Entbehrtem, Fernem]. So definiert es der Duden. Letzte Woche versuchte ich einen allgemeinen Einblick in das Thema Sehnsucht zu geben. Dort sprach ich auf von unterschiedlichen Sehnsüchten, die sich auf unterschiedlichen Ebenen befinden: Instinkte,  Vorlieben, Emotionen, Sehnsüchte auf der Willensebene. Heute will ich mich auf die Sehnsucht konzentrieren, Anhand dessen Berufung wahrnehmbar wird. Es geht um die übernatürlichen Sehnsüchte. Diese übernatürlichen Sehnsüchte sind auf der rationalen Ebene des Menschen angesiedelt. Sie wandeln und formen die natürlichen Fähigkeiten auf der rationalen Ebene und auf der Willensebene um. Die übernatürlichen Sehnsüchte beflügeln den Menschen und geben ihm die Fähigkeit, in einer Art und Weise zu handeln, zu der er aufgrund seiner eigenen Kräfte und Begabungen nie, weder heute noch morgen, fähig wäre. Genau das ist gemeint, wenn man von der Berufung spricht, denn die Charismen und die Berufung befinden sich auf dieser Ebene.

Übernatürlichen Sehnsüchte – Was soll das heißen?

Um sehen zu können, brauche ich das Auge. Damit das Auge Wolken wahrnehmen kann, bedarf es keiner besonderen Begabung von Gott her, denn dazu ist es schon von Natur aus befähigt. Das Auge kann aber keine Mikrowellen sehen. Dazu ist es nicht fähig. Mithilfe der Vernunft (Auge) kann der Mensch zur Gewissheit gelangen, dass Gott existiert. Aber zu erkennen, dass Gott dreifaltig ist, dass er als Mensch für uns starb und auferstand, liegt außerhalb der Reichweite bloßer Vernunft. Mit den übernatürlichen Wirklichkeiten sowie den von Gott eingegossenen Tugenden, Gaben und Charismen verhält es sich so, als hätte der Herr diesem Auge (Vernunft), das vorher nur Wolken und dergleichen sehen konnte, jetzt die Fähigkeit gegeben, Mikrowellen wahrnehmen zu können. Durch diese übernatürlichen Geschenke verwandelt Gott unsere natürliche Fähigkeit zu glauben, zu hoffen, zu lieben, sodass wir fähig werden Dinge zu tun, die wir von uns aus nie hätten tun können. Gott stellt uns dadurch auf eine andere Ebene.

Ich kann nicht ehrlich sagen „Ich glaube an den gekreuzigten und auferstandenen Herrn der Welt“, wenn Gott mir nicht die Tugend des Glaubens schenkt. Man kann nicht einmal den Namen Jesu im Glauben und im Heiligen Geist sagen, es sei denn, es geschieht mit Gottes Hilfe. „Darum erkläre ich euch: […] keiner kann sagen: Jesus ist der Herr!, wenn er nicht aus dem Heiligen Geist redet“ (1 Kor 12,3). Wir können es nicht allein bewerkstelligen, wir brauchen seine Hilfe. Und dazu befähigt  uns Gott. Ich kann nicht aus Liebe zu Jesus mein Leben für jemanden hingeben, wenn der Herr mir nicht die Fähigkeit verleiht, so lieben zu können. Und das nicht nur deswegen, weil er mir die Motivation schenkt, sondern auch, weil die Art und Weise der Liebe selbst eine andere ist. Er beginnt in mir zu lieben, weil der Mensch durch die neue übernatürliche Fähigkeit durch Christus neu lebt: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Und die eigene Persönlichkeit geht dabei nicht verloren, im Gegenteil, sie blüht erst in Christus richtig auf. So ist auch die Berufung zu verstehen. Das Charisma des Zölibates ist sicherlich nicht für jeden gedacht. Weder muss noch soll es jeder haben. Der Herr sagt diesbezüglich: „Wer das erfassen kann, der erfasse es“ (Mt 19,12). Das heißt, Gott verleiht dem Empfänger des Charismas eine übernatürliche Fähigkeit. Dabei wird der freie Wille des Menschen nicht ausgelöscht. Man ist nicht gezwungen, die Berufung anzunehmen. Aber wenn sie angenommen wird, dann schenkt der Herr die Kraft, sie zu leben.  Wenn dem nicht so wäre, würde Gott etwas Unmögliches erwarten. Das ist aber nicht der Fall. Denn sein Wort gilt: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt und dass eure Frucht bleibt“ (Joh 15,16). Das Bewusstsein, dass die Berufung nicht durch eigene Kraft allein zu leben ist, sondern, dass der Herr dazu befähigt, dass er die Kraft dazu verleiht (vgl. 2 Tim 1,8), kann sehr viel Kraft und Trost schenken.

Beziehung zu den anderen Sehnsüchten

Der Heilige Geist prägt das Herz, sodass dieses Herz eine Ausrichtung bekommt (die Sehnsucht), aber zugleich verleiht er die Kraft, gemäß dieser Ausrichtung zu handeln (der eigentliche Ruf, der in uns wirklich gegenwärtig ist und uns befähigt). Zum Beispiel kann die Keuschheit (übernatürliche Sehnsucht) unverzagt gelebt werden, obwohl die Ehe (Sehnsucht auf der emotionalen und Willensebene) attraktiv erscheint. Das heißt, Gott kann die übernatürliche Sehnsucht, das Charisma der Berufung einprägen, ohne andere Sehnsüchte auszulöschen: wie zum Beispiel die Sympathie für einen Menschen, die emotionale Zuneigung, die rationale Erkenntnis, dass man sehr gut zusammenpassen würde usw.

Wenn jemand kommt und sagt, dass er gerne heiraten würde, dann sage ich: Ja, okay, wer würde das nicht gerne tun? Das ist nicht die Frage, sondern vielmehr: Kann es sein, dass Gott trotz dieses Wunsches beruft? Und die Antwort ist: Ja, das kann er! Das Geschenk der Berufung zerstört unsere natürlichen Sehnsüchte nicht. Eine Liebesbeziehung zu einem Menschen ist etwas Wunderschönes. Und doch, gerade weil sie begrenzt ist, lässt sie erahnen: da gibt es noch etwas viel Größeres, viel Erfüllenderes, die Liebesgemeinschaft mit Gott selbst, dessen Abbild die Ehe ja ist und für die sie steht. Gott kann den Berufenen durch die Gabe der Berufung das nicht nur zu verstehen geben, sondern auch gewissermaßen erfahren lassen: Ja, das stimmt, Gott erfüllt die tiefsten Sehnsüchte. Ja, das stimmt, sogar die Sehnsucht, die eine Liebesbeziehung beflügelt, findet sein Ziel und seine Erfüllung in der Liebesbeziehung mit Gott selbst. Ja das stimmt, ich als zölibatär Lebender darf das schon jetzt erfahren. Nur so kann ich es mir erklären, warum viele Priester und gottgeweihte Menschen ihre Berufung als eine Vorwegnahme des Himmels empfinden.

Praktisch bedeutet das, dass die Sehnsüchte hierarchisch geordnet sein sollten. Dann überlässt nämlich eine niedrigere Sehnsucht einer höheren den Platz. Das sehen wir am beeindruckenden Beispiel von Pater Maximilian Kolbe, der bereit war, für einen anderen im Konzentrationslager zu sterben: Der Wert des Lebens machte Platz für den Wert der Nächstenliebe bis zur Vollendung.

Das wiederum heißt nicht, dass die Ebene der Instinkte, Vorlieben, Emotionen und des Verstandes von den übernatürlichen Sehnsüchten unterdrückt werden sollten. Vielmehr muss der Berufene lernen, diese Ebenen in seine Berufungsentscheidung zu integrieren, denn nur so ist echte menschliche und christliche Reife möglich, nämlich dort, wo die Person in ihrer Ganzheit und als solche und nicht nur ein Teil von ihr, von der Berufung geprägt und verwandelt wird. Je stärker die Liebe, umso stärker wird diese Prägung und Umwandlung sein.

Diese Serie „Sehnsüchte“ entstammt dem Buch von P. George Elsbett LC “Wohin? Finde deine Berufung!”. Das Buch kann man beim Verlag Catholic Media bestellen.

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