Pretoria, Südafrika. Nelson Mandela überlegt, wie er der Spirale des Hasses und der Gewalt zwischen der weißen und der schwarzen Bevölkerung entgegenwirken könnte. In einem Jahr würde die Rugby-Weltmeisterschaft in Südafrika stattfinden und Mandela sieht seine Chance…

 

Mandela, Rugby und die Rettung der Nation

Die schwarze Bevölkerung hasste Rugby, sogar die Farben der Nationalmannschaftsuniform erinnerten an Apartheid. Wenn ein anderes Land gegen Südafrika spielte, feuerten sie im Stadion das andere Land an. In diesem Zusammenhang bat Mandela den etwas verblüfften Rugbykapitän Francois Pienaar, ihn zu besuchen. Es entstand folgender Dialog:

Mandela fragt: „Was ist deine Theorie über Leadership?“

Pienaar: Beispiel geben. Das ist es, was ich immer gelebt habe…

Mandela: Ja, einverstanden… aber wie schaffst du es, dass jemand ein Ziel erreicht, an das er selbst nicht mehr glaubt, das zu erreichen, er sich selber nicht, oder nicht mehr, in der Lage sieht? Wie schaffst du es, dass jemand über den eigenen Schatten springt, dort ankommt, wo er selber nie gedacht hätte, hingelangen zu können?“

Mandela beantwortet seine eigene Frage: „Inspiration. Wir brauchen Inspiration, Francois. Denn um dieses Land aufzubauen, müssen wir alle unsere Erwartungen übertreffen…

Aber, wie schaffst du es, dich selbst und andere um dich herum zur Größe zu inspirieren, wenn nur das ausreichen wird, was besser als dein Allerbestes ist? … Manchmal, in dem du das Werk anderer nützt.“

„Wir brauchen Inspiration, Francois.“ Pienaar hatte kapiert. Die Weltmeisterschaft, die mussten sie gewinnen. Auch wenn die Aussichten nicht gerade rosig waren.  Der dem Land Südafrika Versöhnung schenkende Sieg der Rugby-Weltmeisterschaft von 1995 hat Geschichte geschrieben. Und doch: Die eigentliche Inspiration kam von einem Staatsmann mit klarem Blick, der verstanden hatte, dass für sein Land der Weg zur Größe über einen jungen Rugbykapitän führen würde. Weil er in ihm etwas zu sehen vermochte, was der Kapitän nicht einmal erahnte. Um die Menschen in seinem Land zu inspirieren, wollte er Rugby nutzen, aber dazu musste zuerst der Kapitän der Mannschaft selbst inspiriert werden. Und diese Inspiration fand Pienaar in Mandela. Aber wie ging das?

Der Ausbilder & sein Blick für die Tiefe

1995-1996 war auch das Jahr, in dem ich nach dem Eintritt ins Kloster die ersten Klosterbruder-Babyschritte machte. Natürlich ein ganz anderer Kontext, ganz andere Umstände. Und doch irgendwie ähnlich. Ohne Inspiration hätte ich nicht überlebt.

Die erste Zeit nach meinem Eintritt ins Koster war eine Herausforderung, für uns aber vor Allem auch für unsere Ausbilder.

Besonders einer der Ausbilder bleibt mir fest in Erinnerung. Bei jedem kleinen Fortschritt merkte man, wie beeindruckt er war. Man sah nicht nur authentisches Interesse, sondern auch Wertschätzung und Bewunderung, die er zum Ausdruck brachte. Das Beste daran: Es war nicht geheuchelt. Es war echt. Man wusste: Der glaubt wirklich an mich und als gläubiger Christ gewann ich immer mehr den Eindruck, dass auch Gott mich gerade so anschauen musste: Nicht um zu hinterfragen und zu zerstören, sondern um aufzubauen, zu inspirieren, zu bekräftigen. Der Ausbilder hatte irgendwas in uns gesehen, was wir selber nicht gesehen hatten und im ersten Moment auch gar nicht sehen konnten. Er hat uns gelehrt, tiefer in uns hineinzuschauen. durch ihn habe ich mich selbst immer mehr finden können.

Was machte einen Mandela so inspirierend? Warum fand ich selbst soviel Inspiration und Ansporn in einem meiner Ausbilder?

Beurteilung & Leistung vs. Liebe & der innere Blick

Ich denke, der Hauptgrund war, dass beide gut unterscheiden konnten zwischen einem Menschen und seiner Leistung. Beurteilung gehört heute zum Alltag. Ein Mensch wird bewertet: Du musst so aussehen, diese Leistung erbringen, diesem Freundeskreis angehören, diese Kleidung tragen, diese Erwartungen erfüllen.

Mandela bewertete die Menschen seines Landes – und Pienaar selbst – eben nicht anhand ihrer gegenwärtigen Leistung. Er hatte bewiesen, dass er tiefer schauen konnte, das sehen konnte, wofür Pienaar und die Menschen seines Landes keinen Blick mehr hatten. Er wusste, dass es da mehr gab, als das Auge sah und es mehr gibt, als die jetzigen Gegebenheiten.

Der Mensch, die Menschen, die vor mir stehen, sind viel mehr als das, was sie gerade leisten. Sie sind zu viel mehr fähig.  Zu diesem Kern des Menschen, zu dem, was tiefer als die äußeren Erscheinungsformen und Tätigkeiten liegt, dorthin ist Mandela, aber eben auch mein Ausbilder vorgedrungen.

Es gibt allerdings noch mehr zu bedenken. Jemand sagte einmal, es sei zwar richtig, dass wir nicht lieben können, was wir nicht schon kennen, doch wenn man jemanden wirklich tief kennenlernen möchte, müsse man ihn zuerst lieben. Der innere Blick, von dem in diesem Blog die Rede ist, erlaubt es einem Menschen, der liebt, tiefer zu schauen als die oberflächlichen Erscheinungsbilder, tiefer als die eigenen Erwartungshaltungen und Wunschvorstellungen  an den Anderen, tiefer als Worte, Blicke, ja selbst tiefer als die Taten. Der Blick der Liebe, dieser Blick – der des Herzens – gibt sich nicht mit äußeren, aber auch nicht allein mit inneren Aspekten des Anderen zufrieden, weil ihm bewusst ist, dass all das noch nicht der Andere ist.

Der innere Blick will weiter, will tiefer in das Innere des Anderen vordringen, will ihr oder sein Selbst berühren, erfassen, erblicken.

Wie man diesen inneren Blick erlernen und in das wirklich Tiefe des Anderen vordringen kann, darum geht es im folgenden Theologie des Leibes Beitrag.

 

Dieser Beitrag gibt einige Ideen aus dem 8. Kapitel meines Buches „God, Sex & Soul“ ergänzt und überarbeitet wieder.

Titelfoto: WordSwag