Ich soll mich nach Unschuld sehnen?

Unschuld? Was soll das denn heißen?… Schon war ich vorbeigefahren, aber mein Herz war bei dieser Frau geblieben. Es war erst vor kurzem. Ich fuhr in einem kleinen, abgelegenen Dorf in den französischen Alpen eine schmale Straße entlang. Nur kurz habe ich sie gesehen… aber dieser Anblick! Die Frau selbst war irgendwo in ihren 70ern. Schwer fiel es ihr, auf ihren Krücken zu gehen. Ein Blick himmelwärts. Es schien nicht, als hätte ein bestimmter Berggipfel ihren Blick gefesselt. Man hatte auch nicht den Eindruck, als hätte sie mit einem kurzen, respektlos ausschweifenden Blick gleich den ganzen Horizont eingeatmet oder ausgetrunken, so wie ein Tourist, der ja viel für den Urlaub in den Bergen bezahlt hat und jetzt bei sich denkt: „Die Landschaft soll gefälligst etwas hergeben“ und wenn sie das nicht tut, verbittert dreinschaut – ihre Augen waren nicht verbittert, auch nicht gefräßig. Außerdem hätte sie sowieso keinen Berggipfel sehen können, die waren von dichten Wolken umhüllt, es drohte zu regnen. Touristin war sie aber anscheinend doch, das kurze Schweifen der Augen gab es auch. Aber das war eben anders. Es war, als hätte sie sich gerade in der Sonne gebadet, die es heute nicht gab. Die Berge, die durften und sollten bleiben, wo sie waren. Hier sein zu dürfen, das war schon Geschenk genug. Ein Funkeln in den Augen, wie ich es schon mal bei einer 90-jährigen Nonne gesehen hatte und bei einem vierjährigen Kind, oder vielleicht doch nicht, beim Kind, meine ich. Das Funkeln beim Vierjährigen war naiv. Das hier war um viele Schicksalsschläge gereifter, tiefer. Und, es war eben echt und ich hatte den Eindruck, der nächste Schritt mit den Krücken wäre schon ganz anders. Sie war einfach dankbar, dort sein zu dürfen. Die Schicksalsschläge des Lebens hatten ihren Blick für das Schöne nicht getrübt, ihre Fähigkeit, dankbar das Geschenk kleiner großer Augenblicke wahrzunehmen und anzunehmen, nicht zerstört, im Gegenteil. Oh Gott! dachte ich mir, und schon war sie aus meinem Blickfeld verschwunden. Oh Gott! dachte ich erneut: Lass das Große, was im Herzen dieser Frau ist, nicht zerbrechen! Es würde mich zerreißen, da zuschauen zu müssen!

Aber leider, manchmal passiert es doch. Etwas zerbricht im Menschen. Man wird hart, bitter oder einfach hoffnungslos. Ich musste an eine weitere Begebenheit denken. Es war vor fast 20 Jahren, leider kann ich mich bis heute immer noch an das genaue Datum erinnern. Es geht um einen Bekannten, den ich zutiefst schätze. Von Grund auf ein sehr einfacher Mann, aber eine Aufrichtigkeit und eine Ehrlichkeit, der ich selten in meinem Leben begegnet bin: ein Mann „de una sola pieza“ – „aus einem Guss“ wie die Spanier sagen würden. Er hatte sich ganz extrem für seinen Freund eingesetzt. Nicht nur ein wenig. Etliche Kosten hatte er auf sich genommen, sogar bis zu einem anderen Kontinent war er gereist, hatte Zeit, Rat, Unterstützung jeglicher Art geschenkt, um seinem Freund in einer schwierigen Situation zu helfen. Ich spreche auch nicht von einer einmaligen Aktion, sondern von einem Handeln, das über Jahre angedauert hat. Er hatte völlig vertraut. Eines Tages, an dem Tag eben, den ich nicht vergessen kann, hat sein „Freund“ ihn kalt sitzen lassen und die Botschaft, die herüberkam, war: All diese Jahre ging es nicht wirklich um eine Freundschaft, sondern um ein kalkuliertes Ausnützen der Güte dieses Mannes. An diesem Tag wurde seine Güte und Aufrichtigkeit „aufgebraucht“ – ich weiß nicht, ob das das richtige Wort ist… Aber etwas ist in ihm an diesem Tag zerbrochen, was leider bis heute noch seine Nachbeben hat.

Die Armen, die Kleinen, die Wehrlosen, die Unschuldigen – da widerstrebt alles in einem, wenn gerade sie als Gebrauchsgegenstände betrachtet, bewertet und behandelt werden. Warum trifft es einen so, wenn ein Unschuldiger leidet, besonders, wenn es um ein Kind geht? Irgendwie sagt man sich: Das darf nicht sein, da passiert eine große Ungerechtigkeit. Die Frau neben der französischen Bergstraße. Natürlich kannte ich sie nicht, hatte sie nie vorher und habe sie nie danach gesehen. Natürlich kann ich nicht sagen, wie und wer sie wirklich war. Und doch, irgendwie konnte ich es wissen. Es stand in ihren Augen, im Gesichtsausdruck zu lesen: Hier ist etwas ganz Kostbares vorhanden, das es zu bewahren gilt. Was folgt, ist ein Versuch, dieses kostbare Etwas und die Sehnsucht, es zu bewahren, tiefer zu erforschen und zu begreifen.

 

Unschuld & Kitsch

Der Mensch war unschuldig und er will es wieder werden. Ach ja? Unschuld? Auf welchem Planeten bist du denn geboren? – Den meisten kommen da wahrscheinlich irgendwelche kitschige Bilder in den Sinn. Und damit, mit dem Kitsch eben, mit dem will man ja wirklich nichts zu tun haben. Außerdem. Unschuld gerade bei Erwachsenen wird zuweilen ja mit Naivität in Zusammenhang gebracht. Und naiv sein, das will ja eigentlich keiner. Die Unschuld, um die es hier geht, hat aber auch gar nichts mit Kitsch zu tun, noch weniger mit Naivität.

9. Juli 2013. Rihanna steht auf der Bühne in der Wiener Stadthalle und feiert den Sexualtrieb in aller Öffentlichkeit. Und doch, Kommentare wie, „Mother Mary, I swear I wanna change“ und „Mister Jesus, I’d love to be a queen, but I’m from the left side of an island, never thought this many people would even know my name“ ließen die Vermutung im Die Presse-Autor Samir Köck hochkommen: „Die Sehnsucht nach der …. Frömmigkeit ihrer Kindertage, irgendwie schimmerte sie durch all das an diesem Abend exekutierte sündige Treiben hindurch.“

Sehnsucht. Sehnsucht nach was denn eigentlich? Nach der „Frömmigkeit ihrer Kindertage“ – ja, vielleicht. Um ehrlich zu sein, auch wenn ich Priester bin, geht es mir hier nicht so sehr um die Frage der Frömmigkeit und nicht einmal um das von Köck erwähnte „sündige Treiben“, sondern eher um die Tatsache, dass dieser Szene-Journalist in dieser Sängerin ganz deutlich einen inneren Konflikt feststellte und ihre Sehnsucht verspürte: Ich will diesem Konflikt entrinnen, ich verlange, sehne mich nach einer Zeit, in der noch nicht so viel in mir zerbrochen war. Verlangen nach Unversehrtheit. Lohnt es sich nicht, diese Sehnsucht im eigenen Herzen Raum zu schenken, sie zu verstehen, sie vielleicht nachzufolgen?

 

Unschuld und Freiheit

Probleme entstehen, wenn Dinge nur deshalb getan werden, weil sie vorgeschrieben sind. Freiheit geht allmählich dort verloren, wo das Gesetz um des Gesetzes Willen befolgt wird. Zum Beispiel: Wenn ich als Priester jemandem sage, er solle in die Kirche gehen, weil es sich so gehört, und immer wieder darauf beharre, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass dieses Beharren früher oder später als Grenzüberschreitung empfunden wird. Warum? Weil ein Gebot auferlegt wird, ohne dass die fragliche Person es versteht. Freiheit verlangt also, dass die Person sich selbst eine Bestimmung auferlegt, nicht aber aus einer Bauchreaktion heraus, nicht willkürlich, nicht einfach, weil es jemand anderes sagt. Das kann sicher manchmal helfen, aber es genügt nicht. Denn dann wird es keine freie Entscheidung sein, sondern eben eine Bauchreaktion oder eine Entscheidung, die jemand anderes, nicht aber man selbst für sich getroffen hat. Ein Vollgebrauch der Freiheit verlangt, dass man versteht, worum es bei der Entscheidung geht – wenigstens zu einem gewissen Grad. Mit anderen Worten. Freiheit setzt objektive, in den Dingen vorhandene Werte voraus, die nicht einfach erfunden, sondern vorgefunden werden. Wo objektive Werte fehlen, müssen alle möglichen Regeln aufgestellt werden, um irgendwie das Leben zu ordnen. Und solchen Regeln, die ohne Fundament dastehen, fügt man sich letztlich wie eine Marionette.

Papst Johannes Paul II. erklärt das in dem er zwischen Ethos (eine INNERE Gesinnung in Bezug auf moralische Werte) und Ethik (ein ÄUßERLICHES moralisches Regelwerk) unterscheidet. Er würde sagen, dass die ursprüngliche Unschuld das vollkommene Ethos der Gabe offenbart und gleichzeitig herstellt. Das „Ethos der Gabe“ steht im Gegensatz zu einer Ethik, die sich nur auf äußere moralische Vorschriften bezieht, oder auch zu einem Ethos, das nicht an die Größe des Menschen glaubt. Das „Ethos der Gabe“ hingegen bezieht sich zuerst auf eine innere Herzenshaltung, die Resultat der eigenen gewonnenen Erkenntnis und der eigenen freien Entscheidung ist.

Der aus dem inneren „Ethos der Gabe“ handelnde Mensch tut die Dinge nicht einfach blind, weil das soziale Bewusstsein dies ihm sagt oder weil eine Firma, ein Staat oder auch eine Religion es ihm vorgeschrieben haben. Ein aus Ethos handelnder Mensch tut die Dinge, weil er versteht, warum er sie tun sollte, und weil er sich frei entschieden hat, sie zu tun. Weil er einen Wert, das sittlich Gute, erkannt hat und begreift, dass dieser Wert übereinstimmt mit dem, was seine Sehnsucht ist und mit dem, was er eigentlich will. Deswegen entscheidet er sich dafür. Der aus einem inneren Ethos lebende Mensch will diesen Wert leben. Er entscheidet sich dafür, weil er es möchte.

Die Überbetonung der Regeln gerade auch im Bereich der Sexualität entstammt, gemäß Johannes Paul II., einem Misstrauen gegenüber den Fähigkeiten der menschlichen Freiheit. Es sollte dem Menschen nicht so sehr um die Unterdrückung seiner Leidenschaften, sondern um das Befolgen seiner tiefsten Sehnsüchte gehen. Hier ein paar seiner Gedanken:

„Wir können das Herz nicht kontinuierlich unter Verdacht stellen… die Erlösung ist eine Wahrheit, eine Wirklichkeit, von der sich der Mensch angesprochen und berufen fühlen muss, und zwar auf wirksame Weise… Das bezieht sich…auf die tiefste Schicht seines Menschseins, seiner Person, auf die tiefsten Impulse seines ‚Herzens‘. Spürt der Mensch nicht, zusammen mit der Begierde, ein tiefes Bedürfnis, die Würde seiner gegenseitigen Beziehungen (als Mann und als Frau)… zu bewahren? Verspürt er nicht das Bedürfnis, diese mit allem, was erhaben und schön ist, zu durchdringen? Spürt er nicht das Bedürfnis ihnen den höchsten Wert zu verleihen: die Liebe? … (Es geht nicht nur um) ein anderes Ethos, sondern um eine andere Sichtweise hinsichtlich der Möglichkeiten des Menschen.“ (Johannes Paul II., TdL)

Hier tritt ein weiterer Aspekt des „Ethos der Gabe“ zum Vorschein: Hier ist die Rede nicht nur von irgendeinem Ethos, sondern eben von einem Ethos der Gabe. Das „Ethos der Gabe“ bezieht sich auf eine innere Herzenshaltung, wobei derjenige, der sich bemüht, dieses Ethos zu leben, erstens erkennt, dass die tiefste Bedeutung und der Sinn des Menschseins nicht irgendein beliebiger ist, sondern darin besteht, Gabe sein zu können, sich einem anderen zu schenken, für andere da zu sein und selbst als Geschenk empfangen zu werden, und sich zweitens dann immer wieder frei dazu entscheidet, diesen Wert zu leben. Die Sehnsucht nach der ursprünglichen Unschuld bezieht sich einfach auf den Wunsch, der am Anfang jeglichen menschlichen Verlangens steht, genau diesen Wert aus einer inneren Freiheit heraus leben zu können. Die „Unschuld“ des „Anfangs“ bezieht sich letztlich auf die Fähigkeit, echt lieben zu können und echt geliebt zu werden, frei von Zwang, Entstellung, Masken, Selbstsucht und Egoismus. Die Fähigkeit hierzu entwickelt sich nicht aufgrund von Naivität, sondern von Reife. Wie schon vorher erwähnt wurde: „Menschliche Reife bedeutet den vollen Gebrauch des Geschenkes der Freiheit.“ Es geht um eine Reife in der Liebe, wo der Wert und die Bedeutung des Körpers und der Sexualität erkannt und frei gelebt werden. Man will gar nichts anderes. Die Rede über die reale Möglichkeit, den Weg der Unschuld einzuschlagen und gehen zu können, möchte an Folgendes erinnern: Die tiefsten Sehnsüchte des Menschen sind genau richtig, es lohnt sich, ihnen nachzugehen.

In Bezug auf das „Einswerden“ von Mann und Frau heißt „Ethos der Gabe“, dass man sich auf dem Terrain des gegenseitigen Schenkens und nicht des gegenseitigen Nutzens bewegt. Die Gabe, das Geschenk, wird nicht vom anderen entrissen, was ja die Gabe zerstören würde, sondern entgegengenommen. Denn, wie auch schon erwähnt, ein Geschenk kann man nur frei empfangen, aber auch nur frei geben, sonst zerstört man das Geschenk. Die innere Freiheit des Geschenks des eigenen Ichs und dessen Aufnahme im anderen weist auf die Unschuld hin, aber im freien Entschluss macht sich der Mensch diese Unschuld gleichzeitig zu eigen. Das heißt, Unschuld passiert nicht einfach. Es ist das Resultat eines inneren und äußeren Tuns, einer Herzenshaltung, die man wirklich will und für die man sich entscheidet.

Interessant dabei erscheint die Tatsache, dass diese Herzenshaltung nicht einer Naivität im sexuellen Bereich entstammt. Um auf Genesis zurückzukommen: Die ursprüngliche Unschuld von Adam und Eva will nicht heißen, dass sie sexuell in geringem Maße erregbar gewesen wären oder keine Erfahrung des Eros und der Libido gemacht hätten. Ganz im Gegenteil. Sie entdecken vielmehr, dass der Eros durchtränkt ist von der Logik des Geschenks, oder, um einen christlichen Begriff zu nutzen, von der „Agape“, von der sich schenken wollenden Liebe, vom Verlangen, das Geschenk des anderen zu empfangen und sich selbst frei geben zu können. Aber eben: zu können, nicht zu müssen. Wo ein Muss ins Einswerden eintritt, entstehen Grenzüberschreitung und Freiheitsverlust. Aber mehr dazu in zwei Wochen.

„Diese Unschuld ist genial, sodass du am liebsten weinen möchtest
Diese Unschuld ist genial, bitte gehe nicht weg
Denn ich brauch dich jetzt
Und ich werde sie festhalten, lass sie nicht vorübergehen.“
Avril Lavigne, Innocence

Das ist der erste von zwei Beiträgen zum #TheologieDesLeibes Thema „Unschuld“. Die Überlegungen entstammen etwas modifiziert und ergänzt aus dem von mir geschriebene Buch: „God, Sex & Soul“)

Titelbild: ©Pixabay.com/de